Eine persönliche Zeitreise zum Wunder von Bern
Herforder Ehepaar blickt zurück
„Deutsche Fans, die sich ohne Ticket auf dem Weg nach Bern befinden, mögen bitte sofort umkehren. Die Polizei lässt sie nicht passieren“, kratzte es aus dem Autoradio von Manfred und Helga Schepper am Morgen des 4. Juli 1954. „Schatz, lass uns umdrehen“, warnte die 26-jährige Ostwestfälin ihren Mann nicht ganz ohne Grund: Denn über Eintrittskarten verfügten sie nicht.
Doch der gelernte Diplom-Ingenieur hatte sich zum Ziel gesetzt, das Finale um die fünfte Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Ungarn und Deutschland live im Berner Wankdorf zu erleben. Schließlich schenkte er dies seiner Frau einen Tag zuvor. „Wir waren am 3. Juli beruflich in Schwäbisch Hall, da habe ich den Entschluss gefasst: Dieses Erlebnis schenke ich Helga zum Geburtstag. Wir fahren nach Bern“, schwelgt Manfred Schepper 64 Jahre später in Erinnerung.
Kurzerhand mussten die Großeltern im heimischen Herford auf die Kinder Klaus und Beate aufpassen und das geplante und wahrscheinlich erste Public-Viewing der Nachkriegszeit musste ohne die Beiden stattfinden. Es gab nur ein Problem: Sie waren die Gastgeber. „Bei uns zuhause freuten sich bestimmt 40 Menschen auf das Spiel“, erinnert sich das Ehepaar. Ein kleiner Fernseher und ein 12 Meter hoher Antennenmast auf dem Dach wurden extra für dieses Ereignis besorgt. „Gott sei Dank haben sie alles nachher aufgeräumt“, sagt die heute 90-jährige Helga und lacht.
Manfred und Helga Schepper sitzen in ihrer Küche in Herford und schwelgen bei Kaffee und Kuchen in alten Erinnerungen. Bei jedem Foto und der dazugehörigen Geschichte an das Wunder von Bern wird ihnen bewusst, dass sie womöglich eine der letzten Zeitzeugen dieses Ereignisses sein könnten. „Ich kann mir vorstellen, dass wir sogar das letzte lebende Ehepaar sind, das in Bern dabei war“, sagt Manfred. 1949 haben die Scheppers geheiratet. Verliebt sind sie 2018 immer noch. Manfred weiß, dass man mit 95 immer mit dem Schlimmsten rechnen müsse. Die Geschichte rund um ihre Erlebnisse von damals zu erzählen, ist ihnen ein Privileg und tut den Beiden sichtlich gut. Kein Detail der Reise wird ausgelassen. Unweigerlich nimmt das Paar einen mit auf eine Zeitreise.
Zurück in Süddeutschland im Jahr 1954: Während sich die kriegsgebeutelte Republik auf das WM-Endpiel freut, stehen die Scheppers mit ihrem Opel Kapitän kurz vor der deutsch-schweizerischen Grenze und erhalten von einem Tankwart den goldenen Tipp: Den Zollbeamten sagen, man befinde sich auf dem Weg nach Zürich. Getreu dem Motto: Ach, heute findet ein Fußballspiel statt? „Der Tankwart verabschiedete sich und prophezeite, wir würden uns nur ärgern. Das Vorrundenspiel gegen Österreich wäre doch der Höhepunkt der WM gewesen. Gegen die Ungarn hätte Deutschland keine Chance“, ergänzt Helga.
An der Grenze dann die Kontrolle, doch der damals 31-Jährige ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen und schaffte es – dank des Tipps – nach Bern.
Bekanntermaßen regnete es in Bern nahezu den ganzen Tag. „Das war unser Glück“, erinnert sich Manfred. Denn überdachte Stadien waren damals rar gesät, die Menschen wollten ihre Karten loswerden. Nach wenigen Minuten erstanden sie zwei Eintrittskarten für das Weltmeisterschaftsfinale. Zehn Mark pro Ticket wechselten den Besitzer – unvergleichbar mit heutigen Preisen. Manfred überließ Helga seinen alten Kleppermantel und besorgte die für die WM typische Mütze mit ihrem langen Schirm als Regenschutz
Zwar bemerkten die beiden erst hinter der Ticketkontrolle, dass sich ihre Plätze zwischen den ungarischen Fans befanden, doch Probleme gab es nicht. „Selbst nach den Toren gratulierten sie uns und klopften einem auf die Schulter.“ Insgesamt vier Stunden harrten sie mit Tausenden auf schräger Ebene ohne Stufen hinter dem Tor aus, größtenteils bei Regen.
Zu ihrem Glück spielte Deutschland in der ersten Halbzeit auf die entgegengesetzte Seite, sodass sie das historische Rahn-Tor aus kürzester Entfernung wahrnahmen. Kurz zuvor drückte Manfred Schepper noch auf den Auslöser seiner Kamera. „Kurz danach schoss Ungarn den vermeintlichen Ausgleich, doch der Schiedsrichter entschied auf Abseits. Das bekamen die Fans bei uns im Block erst nicht mit. Danach jubelten nur noch wir!“
Jubelnd zogen sie aus dem Wankdorf-Stadion und erlebten eine Hiobsbotschaft: Der starke Regen hatte den Parkplatz in eine Schlammwiese verwandelt und gemeinsam steckten sie mit anderen Deutschen nicht nur sprichwörtlich fest. Dann wurde eben erst einmal gefeiert und 30 Minuten gehupt. Manfred und Helga erlebten den wohl ersten Autokorso der deutschen Fußballgeschichte. Nachdem die Jubelarie etwas abgeklungen war, die Fans sich gegenseitig aus dem Schlamm zogen, begaben sie sich auf den Rückweg – ein erneut unvergessliches Erlebnis für die Scheppers: „Die Schweizer jubelten uns – im Gegensatz zur Hinfahrt – auf der Straße regelrecht zu. Kurz hinter der Grenze kehrten wir in einen Gasthof ein und wollten etwas essen. Doch als bekannt wurde, dass wir im Stadion waren, setzten sich der Wirt und alle Gäste zu uns und wir mussten erzählen und erzählen…“
Übermüdet, aber immer noch voller Euphorie ging es am nächsten Morgen weiter nach München. Dort sollten die Helden von Bern empfangen werden. „Umgeben von den Ruinen am Münchner Rathaus spürten wir die Aufbruchstimmung des ganzen Landes. Solch eine Aufbruchstimmung ist und wird einmalig bleiben.“ Das war den Scheppers bereits 1954 bewusst. Der Kontrast zwischen dunkler Vergangenheit und freudiger Zukunft blieb ihnen bis jetzt eindrucksvoll im Gedächtnis.
Die eigenen Bilder digitalisierte der 95-Jährige vor ein paar Jahren – zum Glück. Denn irgendwann gingen die originalen Aufnahmen verloren. Omnipräsent bleiben die Bilder und Emotionen der dreitägigen Reise für Helga und Manfred immer. Auch jetzt noch, 64 Jahre danach. „Dieses Erlebnis gehört zu den absoluten Highlights unserer nunmehr 69-jährigen Ehe.“ Erzählt haben sie diese Geschichte etliche Male. Man stelle sich nur einmal vor, sie wären der Anweisung gefolgt und umgedreht…