Bis 1933 waren Juden ein wichtiger und selbstverständlicher Teil der deutschen Fußballkultur. Persönlichkeiten wie Fußballpionier und Kicker-Gründer Walther Bensemann, die beiden Nationalspieler Julius Hirsch und Gottfried Fuchs oder der FC Bayern Präsident Kurt Landauer stehen beispielhaft für den immensen Beitrag der Juden zur Entwicklung Deutschlands zu einer frühen Fußball-Großmacht.
Mit der Ausgrenzung der Juden aus dem deutschen Sport kurz nach der NS-Machtübernahme 1933 gingen nicht nur diese Persönlichkeiten für den Fußball verloren, sondern gleichsam auch die Erinnerung an sie. Auch nach 1945 blieb eine Würdigung der großen Bedeutung jüdischer Fußballer für die Entwicklung des Fußballs in Deutschland lange völlig vergessen.
Erst seit einigen Jahren haben immer mehr engagierte Fans, mittlerweile auch ganze Klubs, damit begonnen, die Geschichte ihrer ehemaligen jüdischen Mitglieder zu erforschen. Durch diese Initiativen ist heute eine beachtliche Zahl an Biographien bekannt, die sich wie ein Who-is-Who des deutschen Vorkriegsfußballs liest. Diese Lebensgeschichten sind aber fast noch nie an einer zentralen Stelle zusammengefasst worden.
Unser Ziel ist es, in diesem Online-Lexikon die Biographien möglichst vieler Fußballer jüdischer Herkunft zusammenzutragen. Damit soll nicht nur die historische Leistung jüdischer Fußballer umfassend gewürdigt werden, sondern gleichsam ein Signal in die Gegenwart und Zukunft gesendet werden, damit der Fußball vielfältig, weltoffen und tolerant bleibt.
Dieses Lexikon soll als der zentrale virtuelle Gedenkort im deutschen Fußball fungieren. Erstmals werden die großen Leistungen jüdischer Sportler auf eine zeitgemäße und multimediale Weise dargestellt und vermittelt.
Für dieses Ziel arbeiten wir bei diesem Lexikon im Netzwerk der deutschsprachigen Vereinsmuseen und Klubarchive mit zahlreichen Vereinen, Faninitiativen und engagierten Fans aus allen Teilen Deutschlands zusammen:
Wir laden audrücklich alle Interessierten zu einer weiteren Mitarbeit ein, um dieses Lexikon stetig zu erweitern. Jede Fangruppe, jeder Verein oder auch engagierte Einzelpersonen können vor Ort Nachforschungen anstellen, da die Namen und Schicksale sehr vieler wichtiger jüdischer Persönlichkeiten im deutschen Fußball immer noch unbekannt sind.
Ende des 19. Jahrhunderts schwappte die Welle der Fußballbegeisterung von England nach Kontinentaleuropa. Dass sich gerade Deutschland in diesen Jahren schnell zu einer führenden Fußball-Großmacht entwickelte, lag zu einem entscheidenden Maße am Engagement jüdischer Fußballpioniere.
Zahllose bis heute bekannte deutsche Fußballvereine gehen auf Spieler, Trainer oder Funktionäre jüdischer Herkunft zurück. Mit den Karlsruhern Julius Hirsch und Gottfried Fuchs schafften zwei jüdische Spieler sogar den Sprung in die Nationalmannschaft: Die beiden Angreifer bestritten in den Jahren 1911-1913 insgesamt 13 Länderspiele für Deutschland, in denen sie nicht weniger als 17 Treffer erzielten.
Fast alle jüdischen Fußballer waren in diesen Jahren Seite an Seite mit ihren christlichen Teamkameraden in überkonfessionellen Teams aktiv. Rein jüdische Vereine waren zu diesem Zeitpunkt eine große Ausnahme. Sie entstanden entweder dort, wo es große Synagogengemeinden mit einer starken zionistischen Ausrichtung gab (z.B. in Berlin oder Leipzig) oder wo bereits in den Krisenjahren der Weimarer Republik auch im Fußball offener Antisemitismus spürbar war.
Dies alles änderte sich schlagartig nach dem 30. Januar 1933. Nur wenige Wochen nach der NS-Machtübernahme zählten deutsche Turn- und Sportvereine zu den ersten gesellschaftlichen Massenorganisationen, die die ‘Arisierung‘ des gesellschaftlichen Lebens in eigener Verantwortung vorantrieben. Wegbereiter und Motor dieses Prozesses war der damals mitgliederstärkste Verband, die Deutsche Turnerschaft. Doch auch im Fußball waren frühzeitig entsprechende Initiativen erkennbar.
Bereits am 9. April 1933 bekundeten 14 führende Vereine aus dem Süden und Südwesten, der neuen Regierung „insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen“ zu helfen. Die Umsetzung dieser Absichtserklärung differierte in den Vereinen: Der 1. FC Nürnberg teilte seinen jüdischen Mitglieder nur wenige Tage später schriftlich ihren Ausschluss zum 1. Mai 1933 mit. Eintracht Frankfurt hingegen ließ sich mit der Umsetzung dieser Maßnahme deutlich mehr Zeit. Recherchen zeigen, dass erst 1937 die letzten Sportler jüdischer Herkunft die Eintracht verlassen mussten. Im historischen Vergleich waren solche Fälle aber eine seltene Ausnahme. Es ist davon auszugehen, dass die allermeisten jüdischen Fußballer bereits im Laufe des Jahres 1933 aus ihren bisherigen Vereinen gedrängt wurden.
Es ist wichtig festzuhalten, dass kein Fußballklub zu diesem Zeitpunkt zur Anwendung solcher Maßnahmen gezwungen wurde. Die NS-Führung gewährte Juden im Bereich des Sports sogar vielmehr zunächst gewisse Sonderrechte, weil sie einen Boykott der Olympischen Spiele 1936 in Berlin durch westliche Staaten wie die USA unbedingt verhindern wollte.
Mit dem Ausschluss aus ihren bisherigen Vereinen wurden zigtausende jüdische Sportler über Nacht heimatlos. Um weiterhin Sport treiben zu können, mussten sie sich nun rein jüdischen Sportvereinen anschließen. Mit Rücksicht auf die Olympischen Spiele tolerierte die NS-Führung zunächst die Aktivitäten dieser Gruppen.
In der täglichen Praxis wurden jüdische Fußballer dennoch bereits in diesen ersten Jahren in ein ‚sportliches Ghetto‘ abgedrängt: Sie mussten in getrennten Ligen und auf abgelegenen Plätzen vor den Toren der Stadt spielen und hatten fast keine Berührungspunkte mehr mit dem übrigen deutschen Sport. Innerhalb dieser Parallelwelt entwickelte sich jedoch zunächst ein überaus aktives und aus heutiger Sicht beeindruckend vielfältiges jüdisches Sportleben.
Ihren höchsten Mitgliederstand erreichten die beiden jüdischen Sportverbände Sportbund Schild und Deutscher Makkabikreis in den Jahren 1935 und 1936. Beiden Verbänden gehörten in dieser Zeit jeweils über 20.000 Mitglieder an, so dass der Sport mit knapp 50.000 Aktiven in dieser Zeit zu den aktivsten und größten Bereichen des jüdischen Lebens zählte. Unter ihnen befanden sich gut 10.000 Fußballer, die in mehr als 200 (!) Vereinen organisiert waren. Während sich dabei Großvereine wie Schild Frankfurt mit mehr als 20 Jugend- und Senioren-Mannschaften am Spielbetrieb beteiligten, kamen in kleinen Landgemeinden wie Twistringen in Niedersachsen fast alle jüdischen Jugendlichen aus einem Umkreis von über 50km zusammen, um ein paar Stunden gemeinsam Fußball zu spielen.
Es mag aus heutiger Sicht zunächst verwunderlich erscheinen, warum der Sport im Leben der Juden während der NS-Zeit eine so große Bedeutung einnahm. Erinnerungen von Zeitzeugen lassen vor allem zwei Schlüsse zu: Zum einen wurde der Sportplatz zu einem Schutzraum, in dem Aktive und Zuschauer die Sorgen ihres Alltags für ein paar Stunden vergessen konnten. Zum anderen bot der Sport für Juden in der NS-Zeit eine fast einzigartige Möglichkeit, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Im NS-Staat permanent als körperlich degeneriert gebrandmarkt, konnten Juden durch Sport sich selbst und ihrer Umwelt demonstrieren, zu welchen Leistungen sie im Stande waren. Auf diese Weise wurde Sport zu einer Form des Widerstehens gegen die NS-Rassenpolitik.
Nach den Olympischen Spielen 1936 endete die Hochzeit des jüdischen Sports in Deutschland. Für die Nazis bestand jetzt kein Grund mehr, den Sport von den Repressalien ihrer antisemitischen Politik auszunehmen. Ab Ende 1936 wurden immer mehr jüdische Sportveranstaltungen verboten und den Vereinen die Sportplätze gesperrt. Zugleich verloren viele Klubs ihre Mitgliederbasis, weil immer mehr Juden ins Ausland flüchteten: Vielfach waren vor Ort nun nicht mehr genügend Spieler vorhanden, um noch eine Fußballelf zusammenzustellen.
Nur wenige Monate später, kurz nach Beginn der Fußballsaison 1938/39, besiegelten die Pogrome des 9. November 1938 endgültig das Schicksal der jüdischen Sportbewegung. Spätestens von diesem Zeitpunkt an wurde Sport für Juden zu einer Nebensache in ihrem Kampf um das nackte Überleben. Im Jahr 1942 begannen die Deportationen der deutschen Juden in die Ghettos und Vernichtungslager des Ostens. Wie für Millionen anderer Menschen wurden diese Lager auch für viele Gründer, Spieler oder Förderer des deutschen Fußballs zur letzten Station auf ihrem Leidensweg der Entrechtung und Verfolgung. Eines der vielen Opfer der NS-Vernichtungsmaschinerie ist der 7-fache deutsche Nationalspieler Julius Hirsch, der 1943 im KZ Auschwitz ermordet wurde.
Nach dem Ende der NS-Herrschaft dauerte es viele Jahrzehnte, bis sich der DFB und seine Vereine kritisch mit ihrem Wirken in der NS-Zeit auseinandersetzten. Die Erinnerung an viele einst wichtige und verdienstvolle jüdische Mitglieder ging in diesen Jahren fast endgültig verloren.
Erst im Vorfeld der Fußball-WM 2006 in Deutschland sah sich der DFB veranlasst, seine Geschichte in der NS-Zeit wissenschaftlich erforschen zu lassen. Seit der Veröffentlichung dieser Studie 2005 hat sich die Geschichtspolitik des DFB völlig verändert: Mit dem Julius-Hirsch-Preis erinnert der DFB seitdem aktiv an die jüdischen Fußballer, Trainer und Funktionäre, die den deutschen Fußball maßgeblich mitgeprägt haben und Opfer der NS-Rassenpolitik wurden. Auch das 2015 vom Verband in Dortmund eröffnete Deutsche Fußballmuseum führt regelmäßig Gedenkveranstaltungen durch und erinnert in seiner Ausstellung an das Schicksal verfolgter jüdischer Fußballer.
Die Wiederentdeckung der jüdischen Vergangenheit ist jedoch kein Prozess, der sich im deutschen Fußball nur von oben nach unten entwickelte. Zahllose Fanclubs, Fanprojekte oder einfache Mitglieder haben in den letzten gut zehn Jahren damit begonnen, vor Ort die Geschichte ihrer Vereine vor 1945 aufzuarbeiten. Gut 80 Jahre nach ihrer Zerschlagung durch das NS-Regime existieren heute auch wieder rund 40 Makkabi-Vereine in Deutschland, die in die allgemeinen Dachverbände wie den DFB fest integriert sind.
Henry Wahlig: Sport im Abseits. Die Geschichte der jüdischen Sportbewegung im nationalsozialistischen Deutschland. Göttingen 2015.
Lorenz Peiffer / Henry Wahlig: Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland. Eine Spurensuche. Göttingen 2015.