„Sim Sim Simsalabim“ – die Berliner verehrten ihn, den Ballmagier Simon „Sim“ Leiserowitsch.
Sim kam in der Saison 1912/13 über seinen Heimatverein SC Dresdensia 1898 und einem kurzen Aufenthalt bei Hertha BSC zum Berliner Tennis-Club „Borussia“, der über Jahrzehnte sportlich und „gesellschaftlich“ seine Heimat wurde.
Er gehörte zu einer Reihe auswärtiger Spieler, die vom Club um 1910 verpflichtet wurden. Solche Verpflichtungen von Spielern, die nicht aus dem unmittelbaren Vereinsumfeld kamen, waren unter dem bereits damals virulenten Amateurparadigma weder üblich noch populär. Die Tennis Borussen profitierten von den guten und freundschaftlichen Verbindungen ihrer 1910 gegründeten Akademikerabteilung zu Vereinen aus dem gesamten Kaiserreich. Es waren überwiegend Studenten, die sich für das Studium in Berlin aufhielten. Der Verein hatte den Ruf, ein Club besonders wohlhabender junger Männer zu sein. Richard Girulatis sprach in der Festschrift von 1952 mit Blick auf die frühen 1910er Jahre von einer „Sonderstellung unter den Vereinen“, „[d]ie innere Struktur des Clubs wurde bestimmt durch eine ganze Anzahl wohlhabender Mitglieder“.
Simon war anders. Was den Sohn des Dresdner Tabakschneiders Movschovitsch Jeduah (später nannte er sich Julius) Leiserowitsch von den anderen Neuzugängen der frühen 1910er Jahre vor allen Dingen unterschied, war seine soziale Herkunft, die nicht so recht zu der Gründergeneration der Tennis Borussia zu passen schien. Geboren wurde Joseph Simon Leiserowitsch am 18. August 1891 in Dresden. Seine Eltern waren um 1887 vor Pogromen aus Minsk, Weißrussland, geflohen. Julius und Basse Leiserowitsch zogen Simon und seine vier Geschwister in sehr ärmlichen Verhältnissen groß. Simon mauserte sich rasch zum Leistungsträger der Ersten Mannschaft. Wenn er Tore schoss, sprachen die Berliner davon, er habe „feine Leute“ ins Tor des Gegners geschickt.
Nur rund ein Jahr, nachdem Simon Leiserowitsch die lila-weißen Farben des Clubs anlegte, brach im August 1914 der Erste Weltkrieg aus. Russische Staatsangehörige, schreibt der Historiker Jochen Oltmer, galten offiziell als „feindliche Ausländer“, darunter auch die jüdischen Flüchtlinge aus Russland. Ein kleinerer Teil wurde interniert, der größere Teil wurde mit polizeilichen Auflagen belegt und die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Umgehen konnten jüdische Flüchtlinge solche Maßnahmen zum Preis der Militärpflicht durch den Erwerb der Staatsbürgerschaft. „Auch wenn die Einbürgerungsrichtlinien nach Kriegsbeginn keiner grundsätzlichen Veränderung unterlagen, wurden 1914 und 1915 ‚fast achtmal so viel Juden eingebürgert wie im Durchschnitt der vorangegangenen Jahre, wohl nicht zuletzt, um Soldaten zu gewinnen‘. Die Einbürgerungszahlen von Juden lagen allein für das Jahr 1915 deutlich höher als im gesamten Jahrzehnt vor Beginn des Krieges. Die Erleichterungen in der Einbürgerungspraxis gingen einher mit einem deutlichen Rückgang antisemitischer Äußerungen und Aktivitäten im Zeichen des ›Burgfriedens‹.“
Während sein älterer Bruder Leopold „im Feld stand“, wie man damals sagte, (nachweisbar für das Jahr 1917), war Simon Leiserowitsch ausweislich der Berliner Sportpresse 1915 bis 1917 das Rückgrat der Tennis Borussen. Fußballvereine hatten nahezu im Monatstakt erhebliche Verluste hinzunehmen, immer neue Jahrgänge Jugendlicher und älterer Männer wurden für den Landsturm eingezogen. 294 Tennis Borussen waren es im August 1916, „26 davon fielen auf dem Felde der Ehre“. Nach dem Krieg betrauerte der Gründungsvorstand von 1902, Richard Böhme, „als langjähriger Freund fast aller im Weltkrieg Gefallenen“ den Verlust von „55 Freunden“. An anderer Stelle werden 52 Kriegstote namentlich genannt. Diese Zahlen sind schockierend, gerade auch, wenn in Rechnung gestellt wird, dass der Club noch 1912 nur 200 Mitglieder hatte, und so gehört es sicherlich zu einer der größten Leistungen des Vereins unter dem Vorsitz von Theodor Sachs, den Spielbetrieb auch unter diesen höchst unwahrscheinlichen Umständen aufrecht zu erhalten.
Für den Verein liefen die älteren Herren aus der Gründergeneration, namentlich beispielsweise die Lutzenberger-Brüder oder Ulrich Rüdiger, und immer jüngere Jugendliche aus den Jugendmannschaften für die erste Mannschaft auf. Der junge Hermann Reimann beispielsweise ist laut der begeisterten Berliner Fachpresse einer der besten Torleute, die je zwischen den Stangen der Tennis Borussen standen. Herrmann kam Anfang 1915 aus der Vereinsjugend in die Mannschaft und wurde im Frühjahr 1916 einberufen. Im Januar 1917 wird lapidar gemeldet, „Hermann Reimann, der jugendliche gute Torwächter unserer 1. Mannschaft, verlor in Folge einer schweren Verletzung den linken Arm“. Während des Krieges gehörte es zur Normalität, dass Mannschaften in Unterzahl aufliefen, manchmal waren es nur acht Mann, gelegentlich verstärkt durch Kriegsurlauber, und auch nicht selten durch Spieler des jeweils gegnerischen Vereins.
Simon Leiserowitsch, der Ballzauberer, hielt Woche für Woche diese disparate Mannschaft zusammen. Er spielte, wo er gebraucht wurde, in der Verteidigung, als (Mittel)Läufer, im Sturm, und gelegentlich stand er im Tor. Und (fast) immer war er es, dessen herausragende Leistung die Presse besonders hervorhob. „[E]s ist ein Genuss, den Innensturm, Reiff, Egert, Leiserowitsch, spielen zu sehen. Alle technischen Feinheiten des Fußballspiels bekommt man zu sehen“, hieß es beispielsweise im April 1915 nach einem Spiel gegen Hellas.
Es sind nicht nur die Spiele seines Vereins, in denen Simon Leiserowitsch glänzt. Im Laufe seiner Karriere zieht er sich insgesamt 29mal die rot-weißen Farben des VBB über. Auch der Funktionsstab der Tennis Borussen steht in den Kriegsjahren vor dem Zusammenbruch. Simon übernimmt als Leiter der Fußballabteilung selbstverständlich Verantwortung, sein jugendlicher Bruder Fritz übernimmt die Schriftführung, und ist als Zeugwart, Fußballer und Schiedsrichter im Club tätig.
1922 beendet Simon Leiserowitsch seine aktive Karriere in der Ersten Mannschaft des Vereins, bleibt jedoch bei den Alten Herren und in der Fußball Oase, einem Vorgänger der Prominentenmannschaft der Tennis Borussia, weiterhin sportlich aktiv. In der Saison 1927/28 tritt Simon in 27 von 32 Spielen der Alten Herren an. Privat wie beruflich führt er ein umtriebiges, ein „unstetes“ Leben, wie der Journalist Werner Skrentny konstatiert.
Beruflich ist er als Kaufmann reichsweit aktiv. Simon war ein Filou und Lebemann. Davon berichtete seine Enkelin Naomi Leiser bei einem Besuch der Tennis Borussen 2014. Naomis Vater Eric (geboren im Oktober 1925 in Dresden) ist das zweite von drei Kindern – von drei Frauen. Ihre Großmutter Waleska Schulmann ist die Tochter eines Tabakfabrikanten, der die Beziehung zu Berlins Fußballcrack tief missbilligte. Simon arbeitete für ihn als Handelsvertreter. Gemeinsam mit seiner Mutter gelang Sohn Erich noch 1941 die Flucht aus Nazi-Deutschland. Waleska und Eric brechen nach der Scheidung 1927 den Kontakt zu Simon vollständig ab. „Mein Vater hat Simon nie mehr gesehen, nie wieder mit ihm gesprochen“, berichtete Naomi.
Früh floh Simon Leiserowitsch vor den Nazis. Bereits 1933 traf er im (späteren) Israel ein. Er bemühte sich, an seine fußballerische Karriere anzuknüpfen, wird Trainer von Makkabi Tel Aviv und ist als Jugendbetreuer von Hapoel Tel Aviv tätig. Aber wie vielen anderen Emigranten will es ihm nicht so recht gelingen, an sein Leben vor der Flucht anzuknüpfen. Simon fällt es schwer, die neue Sprache zu erlernen, erzählt Enkelin Naomi.
Am 11. November 1962 verstarb Berlins erster Fußballstar in Tel Aviv.