Prominente Runde diskutierte beim 21-Talk im Deutschen Fußballmuseum über »Die Verrohung der Gesellschaft«
»Die 4. Halbzeit« - so heißt das Format, das die kommunale Unternehmensgruppe 21 und das Deutsche Fußballmuseum ins Leben gerufen haben, um gesellschaftlich relevanten Themen eine Bühne zu geben. Auf der – in Wahrheit war’s ein Stuhlkreis auf Augenhöhe mit dem Publikum – begrüßte Moderator Gregor Schnittker ein illustres Quartett: Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange. Die Geschäftsführerin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Dortmund-Hellweg, Jutta Reiter. Den langjährigen Bundesliga-Schiedsrichter Lutz Wagner. Und Claudia Neumann, Sportjournalistin und Fußball-Kommentatorin beim ZDF.
Als solche bekam Claudia Neumann zu spüren, was es bedeutet, Opfer von Hass im Internet und in sozialen Medien zu werden. Als sie vor einigen Jahren erstmals Männerfußball live kommentierte, gaben viele männliche Fans durch Kommentare tief unterhalb der Gürtellinie zu erkennen, dass ihr Weltbild aus einem früheren Jahrhundert stammt. „Ich selbst bin nicht in sozialen Netzwerken unterwegs. Ich habe das Meiste davon gar nicht gelesen“, erzählte sie. „Das hat es erträglicher gemacht.“ Aber nicht besser. „Mit Kritik kann ich gut umgehen, auch dann noch, wenn sie eher auf Geschmack beruht. Aber vieles, was da über mich geäußert wurde, war Genöle.“ Und das ist noch gelinde ausgedrückt. Tatsächlich waren es teils übelste Beleidigungen. Dass manche Medien zu der Entwicklung beitragen, indem sie gerade den Fußball, auch aus wirtschaftlichen Erwägungen, gnadenlos überhöhen, räumt Neumann ein. Ihr Appell: „Wir müssten alle mal einen Tick runterfahren, alle mal raus aus diesem ständigen Hyperventilier-Modus.“
Gewiss hat die Anonymität im Netz dazu beigetragen, Hemmschwellen abzusenken. Jeder glaubt, ungestraft alles schreiben zu dürfen. „Wir sind bei der Verfolgung von Hass im Netz viel besser geworden, als wir es noch vor einigen Jahren waren“, versicherte Polizeipräsident Gregor Lange. „Aber man hat heute ganz oft das Gefühl, da rasen zwei Fahrzeuge frontal aufeinander zu, und beide Fahrer sind nicht bereit, auch nur einen Millimeter vom Kurs abzuweichen. Im Netz potenziert sich das dann noch.“ Der Ruf nach der Polizei komme oft reflexartig. „Es heißt dann, wir sollten konsequenter durchgreifen. Greifen wir konsequenter durch, heißt es: War das wirklich nötig?“
Auch Jutta Reiter beobachtet einen gesellschaftlichen Trend zur Respektlosigkeit. Der DGB hat deshalb die Kampagne »Vergiss nie: Hier arbeitet ein Mensch!« gestartet. „Dass Beschäftigte im öffentlichen Dienst beschimpft werden, das hat es auch früher gegeben. Aber zwischen der verbalen und der körperlichen Attacke verlief eine Grenze. Die fällt nun immer häufiger.“ Die Deutsche Bahn legte unlängst eine Auswertung vor, nach der die Zahl der Übergriffe auf Mitarbeiter*innen im vergangenen Jahr um gut 20 Prozent auf mehr als 4.000 gestiegen sei. Häufig seien Auseinandersetzungen um die Maskenpflicht in Bahnen der Auslöser gewesen. Eine Nichtigkeit eigentlich. „Das schaukelt sich hoch, dann wird geschubst, geschlagen und gespuckt.“ Eine Erfahrung, die auch Polizisten zunehmend machen – weshalb Gregor Lange die Gelegenheit nutzte, klarzustellen: „Es gehört durchaus nicht zu unserem Berufsbild, angepöbelt zu werden.“ Seine rhetorische Frage: „Wie sollen denn Ordnungshüter und Menschen in helfenden Berufen ihren Job erledigen, wenn sie dabei attackiert werden und schon Kleinigkeiten zu handfesten Konflikten führen, weil bei manchen Leuten die Lunte extrem kurz ist?!“
„Als Schiedsrichter“, berichtete Lutz Wagner, der selbst viele Jahre einer war und heute als Lehrwart in der Schiedsrichter-Kommission Amateure des DFB hart an der Basis tätig ist, „bist du heute auch Sozialarbeiter. Du musst noch mehr reden, noch besser kommunizieren. Du musst versuchen, die vermeintlichen Aufrührer unter den Spielern hinter dich zu bringen, um für Ruhe zu sorgen und die Kontrolle zu bewahren.“ Einer, der das auf eine sehr spezielle Art und Weise macht, ist Pascal Martin. Der 21-Jährige ist Schiedsrichter und – Achtung! – Schiedsrichter-Influencer. Als »quallexd001« hat er bei TikTok fast 740.000 und bei Instagram fast 90.000 Follower. Sein Hashtag #RespektFürDenSchiedsrichter sagt eigentlich alles. »Qualle« filmt die Spiele, die er leitet. Er trägt dabei ein Headset. Alles was er sagt, kann man hören. Was er sagt, ist von Wertschätzung und Respekt geprägt. Leitet er Nachwuchsspiele, erklärt er viel. „Natürlich bekomme auch ich manchmal ätzende Kommentare“, sagt er. Insgesamt aber sei das Feedback überwältigend positiv. „Ich erhalte auf jedes Video hunderte Kommentare von jungen Leuten, die Bock haben, Schiedsrichter zu werden und sich dann auch wirklich zum Lehrgang anmelden.“
Das Beispiel von »Qualle«, der beim 21-Talk aus dem Publikum heraus mitdiskutierte, ist eines, das Mut macht. Das zeigt, wie die Gesellschaft die Verrohungs-Spirale durchbrechen kann. Durch mutige Initiativen. Durch kreative Ansätze, die sozialen Medien positiv zu nutzen. Aber auch durch mehr soziale Gerechtigkeit und bessere Chancen für junge Menschen. „Viele Menschen fühlen sich abgehängt und sind es oft auch. Sie haben nicht mehr das Gefühl, solidarisch aufgefangen zu werden. Das müssen wir ändern“, sagte Jutta Reiter. Und Gregor Lange forderte „viel mehr Sozialarbeit“. Man wisse doch sehr genau, dass junge Männer, die für sich keine Perspektive sehen, die problematischste Gruppe seien. „Also müssen wir ihnen bessere Perspektiven bieten und aufzeigen.“ Das allerdings sei „eine gesellschaftliche Aufgabe – und nicht primär eine der Polizei“.